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10 GRAD VOR OT

by Oberer Totpunkt

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1.
Du und ich 03:18
Das Licht geht an. Endlich kommst du nach Hause. Hast mich lange warten lassen. Und ich bin nicht geduldig.  Hab hier gesessen die ganze Zeit, im Dunkeln, sinniert, von dir geträumt mit offenen Augen. Mich nach dir verzehrt...und erkannt, dass du dein eitles Spielchen mit mir treibst. Mich gefragt, wie du es schaffst, mich zu gängeln, alles zu versprechen und nichts zu halten. Nie wirst du erahnen, wie klug ich dabei vorgegangen bin, mehr über dich zu erfahren. Alles über dich zu erfahren. Beinahe ein Jahr habe ich mir Zeit gelassen, denn Eile schadet mehr als sie nutzt. Und ich wusste schon als ich dich zum ersten Mal sah, dass ich behutsam sein muss.  Du und ich.  So vergingen die Stunden. Heute Nacht. Ich höre deine Schritte im Treppenhaus. Den Rhythmus deiner Absätze. Ich sehe jede deiner Bewegungen vor mir, deine Eleganz, deine starke Gestalt. Ich bete dich an, nicht nur wegen deiner Schönheit. Auch wegen deiner Gleichgültigkeit mir gegenüber. Ich bebe vor Erwartung. Und doch ist meine Ungeduld süßer als Nektar!  Weißt du, ich vermute, die anderen werden unsere Liebe nicht verstehen, sie werden vielleicht unschöne Worte für uns finden, aber lass sie nur, wir brauchen sie nicht.  Wir haben uns. Du wirst sehen. Deine Schritte sind jetzt ganz nah, ich höre wie du den Schlüssel ins Schloss steckst – gleich wirst du eintreten und mich zum ersten Mal sehen. Hab keine Angst, Geliebter, ich werde behutsam sein. Der Tod ist ein Freund. Ich warte.  Der Tod ist ein Freund.  Wir werden für immer untrennbar sein.
2.
Alptraum 07:35
Lebst du deinen Traum? Oder träumst du dein Leben? Viertel vor sieben, der Wecker klingelt, reißt sie aus ihren Träumen, sie steht auf, geht ins Bad, putzt die Zähne, duscht, trocknet sich ab, cremt sich ein, föhnt ihre Haare, frühstückt, packt die Tasche, steigt in ihr Auto, fährt, beachtet die Vorfahrt...wartet an der Ampel, behält im Stau ihre Ruhe, lacht höflich über die Sprüche aus dem Radio, nimmt einem BMW die Vorfahrt, kassiert einen Mittelfinger, ärgert sich nicht zum letzten Mal an diesem Tag, sie regt sich auf über den Fahrer vor ihr, sucht einen weniger geschwätzigen Radiosender, zündet sich eine Zigarette an, überfährt eine rote Ampel, ist erleichtert, als sie feststellt, dass keiner geguckt hat, kommt in der Straße an, in der sie arbeitet, sucht einen Parkplatz, findet eine Lücke, steigt aus, geht rauf, antwortet zerstreut auf zerstreute Begrüßungen von so genannten Kollegen, die schon lügen, wenn sie nur guten Tag sagen, Sie setzt sich auf ihren Stuhl und bleibt da für acht Stunden, sie wird einen weiteren Tag damit verbringen, sich über dämliche Anrufer zu ärgern, sie aber scheißfreundlich umgarnen, wird ihre schlechte Laune an den Kollegen auslassen, die in der Hierarchie unter ihr stehen, wird sich selbst dafür hassen, in der Mittagspause wird sie verkochtes Essen verzehren, nachmittags Tabletten gegen Sodbrennen einnehmen, irgendwie werden diese acht Stunden vergehen, in denen sie nicht sie selbst sein wird, in denen sie sich mit Problemen befasst, die nicht ihre sind, in denen sie – ihre Lebenszeit verkauft. Wenn du deine Träume nicht lebst – und statt dessen in deinen Träumen lebst, dann weißt du, dass etwas schiefläuft! Wenn du deine Träume nicht lebst – und statt dessen dein Leben nur träumst, dann läuft was schief! Wenn du deine Träume nicht lebst... Wenn du dein Leben nur träumst... Später die Autofahrt rückwärts: einsteigen, ärgern, warten an Ampeln, warten im Stau, bremsen für Lahme, aufpassen auf Blinde. Schnell einkaufen, die Wohnung aufräumen, ein paar Telefonate führen, essen, abwaschen, die Steuererklärung doch nicht mehr heute machen, statt dessen fernsehen, das Gesehene sofort vergessen, wenn die Weinflasche leer ist, ins Bett gehen, sich einen runterholen, einschlafen, träumen, träumen, von den Dingen, die sein könnten. Du sagst, halb so schlimm, das ist doch nur ein Tag? Aber das ist die Melodie ihres Lebens: So verläuft jeder ihrer Tage – der Wahrscheinlichkeit nach fünfundachtzig lange Jahre. Und wie geht deine Melodie? Du nennst es dein Leben, aber das ist ein Alptraum!Wenn du deine Träume nicht lebst – und statt dessen in deinen Träumen lebst, dann weißt du, dass etwas schiefläuft! Wenn du deine Träume nicht lebst – und statt dessen dein Leben nur träumst, dann läuft was schief! Wenn du deine Träume nicht lebst... Wenn du dein Leben nur träumst... Und du, denkst du immer noch, dass du die Welt bereisen wirst? Dass du die schönsten Orte, die interessantesten Menschen kennen lernen wirst? Dass du exotische Speisen kosten, fremde Lieder singen, wohlklingende Sprachen lernen wirst? Denkst du immer noch, dass du dann, wenn es an der Zeit ist, heiraten und ein, zwei Kinder haben wirst? "Das ist Dein Film - du führst Regie - keine Virtual Reality!" "Wenn Du Deine Träume nicht lebst, erlebst Du Alptraum" Denkst du das wirklich immer noch? Denkst du noch, dass dann alles gut sein wird? Dass du dann endlich wissen wirst, wohin du gehörst? Ja? Denkst du das noch?
3.
Schein 03:54
Als sie ihr erstes Baby getötet hatte, weinte sie bitterlich. Ohne zu schluchzen. Lautlos. Ihre Schultern zuckten dann und wann. Das geschah direkt nach der Entbindung, die sie allein auf der Toilette überstanden hatte. Sein – Schein Damals war sie fünfzehn gewesen. Und der Vater ihres Kindes war längst mit einer anderen zusammen. Ihre Eltern und ihre Mitschüler hatten ihre Schwangerschaft nicht bemerkt. Der Vater ihres zweiten Kindes hatte ihr während der gesamten Schwangerschaft immer wieder Vorwürfe gemacht, weil sie nicht besser aufgepasst hatte. Aber sie hatte sich doch so sehr ein Baby gewünscht! Eine Woche nach der Geburt stellte er sie vor die Wahl: DAS – oder ich! Nachdem das Kind fort war, fragte er nicht einmal nach seinem Schicksal. Das tat auch niemand sonst. Das dritte Kind tötete sie, weil sie es davor bewahren wollte, mit dem cholerischen Alkoholiker zusammen zu leben, der zu der Zeit ihr Partner war. Sie selbst hatte Mühe, ihre vielen blauen Flecke zu verbergen. Alkohol war auch zu ihrem besten Freund geworden, der ihr das Leben irgendwie weicher erscheinen ließ, wattiert fühlte sie sich dann. Das Baby, das war ihr aber trotzdem aufgefallen, hatte ausgesehen wie ein kleines Äffchen. Jedenfalls nicht wie ein Menschenkind. Oft saß sie summend auf dem Balkon. Wenn sie gerade nicht summte, dann bewegten sich ihre Lippen wie in angeregtem Gespräch, aber stumm. Manchmal gestikulierte sie dabei sogar, so eifrig war sie in sich vertieft. Doch meistens summte sie nur. Dann war ihr als vernehme sie die fernen Klänge von hellen Stimmen, ein Lachen aus unbeschwerten Kehlen. Ihr war dann leicht ums Herz und warm und die Einsamkeit lastete dann nicht mehr auf ihr. Sie saß da zu jeder Jahreszeit, ungeduldig auf den Frühling wartend. Darauf, dass die Blumen, die sie gesät hatte, endlich ihre fleischigen, rosa Köpfe aus der Erde streckten. Der Sonne entgegen. Von keinem ihrer Kinder hatte sie sich trennen können. Unbemerkt hatte sie jedes von ihnen bestattet. Jedes in einem Blumenkasten auf ihrem Balkon. Wenn sie da sitzt, dann hat sie Frieden. Dann liegt ein Lächeln auf ihrem blassen Gesicht. Dann sieht sie fast hübsch aus.
4.
Furcht 05:44
Als Kind fürchtete sie sich vor der Dunkelheit. Sobald ihre Mutter das Zimmer verließ, kamen die Gespenster hervor. Die saßen im Dunkeln unter der Couch, unter den Sesseln, unter Schränken. Und sie wohnten unter ihrem Bett. Sie lauerten nur auf eine Gelegenheit, sie anzugreifen. Gesehen hat sie sie nie. Doch sie wusste genau, dass sie dort waren. Als sie ungefähr fünfzehn war, fürchtete sie sich vor einigen Lehrern, auch vor einigen Mitschülern. Aber was sie am meisten fürchtete, das war: nicht beliebt zu sein. Nicht liebenswert zu sein. Sie stellte sich immer vor, dass ihre Mitschülerinnen eine geheime Liste führten, auf der sie vermerkten, wie viele Freundinnen sie hatte, wie viele Verehrer, wie viele Verabredungen. Gesehen hat sie so eine Liste nie. Aber sie ahnte, dass es sie gab. Mit fünfundzwanzig fürchtete sie, im Studium zu versagen oder so schlecht abzuschneiden, dass ihr der Einstieg ins Berufsleben verwehrt blieb. Sie fürchtete sich auch davor, dass kein Mann sie attraktiv finden könnte, dass niemand sie lieben würde. Diese Sorge war so groß, dass sie ihren Vorbildern nachzueifern trachtete – Stars, Models. Sie vermutete, dass Männer klare Vorstellungen hatten darüber, wie eine Frau sein müsste. Und sie versuchte, diesen Vorstellungen zu genügen. Später, sie war etwa fünfunddreißig, fürchtete sie sich davor, im Beruf zu versagen, Fehler zu machen, nicht genug Erfolge zu erzielen. Diese Furcht wuchs, obwohl sie viel leistete. Es schien ihr selbst nie genug zu sein. Um dem Druck standhalten zu können, griff sie nach Tabletten – damit sie schlafen konnte und damit sie wach wurde. Sie glaubte, ihr Chef erwartete von ihr, dass sie niemals in ihrem Eifer nachließ. Bei all dem fürchtete sie darüber hinaus, als Mann-Weib verschrien zu sein, wenn sie ihre Weiblichkeit vernachlässigte. Und so strengte sie sich an, diesem Vorurteil keine Nahrung zu geben. Mit fünfundvierzig fürchtete sie, dass ihre Ehe scheitern, dass ihr Mann sie verlassen könnte. Sie hatte so viel Energie in ihren Beruf investiert und sich zu wenig um ihr Privatleben gekümmert. Sie fürchtete auch, nicht mehr attraktiv genug für ihn zu sein. Ihre Mutter hatte ihr eingebläut, eine Frau müsse attraktiv sein, um geliebt zu werden. Sie akzeptierte, dass für Frauen andere Maßstäbe galten.  Die Furcht, dass ihrem Sohn etwas zustoßen, dass er nicht glücklich sein könnte, lähmte sie mit Mitte fünfzig. Kein Tag verging, an dem sie sich nicht sorgte. Sie bemühte sich, beim Wettbewerb mit den anderen Müttern gut abzuschneiden – das erfolgreich abgeschlossene Studium ihres Sohnes, seine hervorragenden Berufsaussichten, seine privaten Erfolge und: die Häufigkeit seiner Besuche und Anrufe bei ihr. Sie fürchtete, wenn sie mit den anderen nicht mithalten könnte, würden die sie für eine schlechte Mutter halten. Vor dem Verlust ihrer Gesundheit, ihrer Fähigkeiten, fürchtete sie sich in ihren Siebzigern. Sie ängstigte sich davor, dass ihr Mann sie verlassen könnte, wenn sie pflegebedürftig wäre. Und sie fürchtete, dass sie ihren Mann eines Tages würde pflegen müssen. Später, sie war weit über achtzig, fürchtete sie sich davor, ihren Mann durch den Tod zu verlieren. Viele Freunde waren schon gegangen. Aber – was sie am meisten fürchtete war, selbst als letzte zu sterben. Den Tod fürchtete sie nicht.
5.
Fugu 04:31
Nimm doch Platz, mach’s dir bequem, ganz leger, lass dich geh’n. Fühl dich wohl, nimm noch Wein, sei ganz entspannt, nur wir allein. Dieses Mahl für uns zwei, ganz entre nous, zum Wohl! Nimm doch Platz, mach’s dir bequem, ganz leger. ... All i want to say is "I love you! Satt zu sein, ist gefährlich. Nichts ist dann noch von Interesse. Gestillter Hunger ist in Wahrheit der Vorläufer der Depression, nicht wahr, mein Treuloser? Aber dieses Mahl wird anders sein; mein Fugu-Carpaccio ist unvergleichlich: Zartcremiges Fleisch, an Froschschenkel erinnernd; wer Kugelfisch aus Angst vor dem Tod verschmäht, ist ein bemitleidenswerter Mensch. Jedes Jahr werden unzählige Opfer beklagt – meist Leute aus ländlichen Gegenden, die ihn fahrlässig zubereiten. Das in der Galle, den Eingeweiden und der Haut befindliche Tetrodotoxin ähnelt Kurare – es ist 1.250 mal tödlicher als Cyanid. Der Tod durch den Genuss von Kugelfisch wird als qualvoll beschrieben. Obwohl die Gedanken klar bleiben, kann der Betroffene weder sprechen, noch sich bewegen; nach etwa 15 Minuten setzt die Atmung aus. Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt serviert, pflegte meine Mutter zu sagen. Nimm doch Platz, mach’s dir bequem, ganz leger, lass dich geh’n. Wird dir heiß, mein Liebster, bleib ganz ruhig, entspann dich, sorg dich nicht - und nie mehr... Ich finde es gar nicht so heiß hier, aber wenn du meinst... Du hast das Privileg, deinem eigenen Ableben beizuwohnen, eine Premiere, die zugleich Derniere ist! Schade, dass du nicht mehr sprechen kannst. Also: Schweige und genieße einfach..”
6.
Liebevoll hauchte Sabrina einen Kuss auf das haarige Etwas in ihrer Hand. Da war so viel Liebe in ihr. So viel Hingabe und Zärtlichkeit. Dann ließ sie es zurück in die Schatulle gleiten und die in den Bettkasten. Der Ort, der prädestiniert war für Geheimnisse jeglicher Art. Ein Ort des Schweigens. Sabrina wandte sich den täglichen Notwendigkeiten zu: Fingernägel lackieren. Sie holte Nagelset, Nagellackentferner, Wattebäuschchen, Nageltinktur, Nagellack – und legte los. Noch immer spürte sie das zärtliche Gefühl in sich. Sie warf einen Blick zum Bettkasten. Dann summte sie eine langsame Melodie während sie ihre Fingernägel vom Nagellack befreite. Ein Ort des Schweigens. Sabrinas Fingernägel zeigten jetzt wieder ihre natürliche Farbe: Schwarz. Oder ein tiefes Violett. Die Farbe rührte von unzähligen Blutergüssen her. Und die wiederum daher, dass sie – wann immer ihr seelischer Schmerz unerträglich wurde – die Spitze einer Steck-nadel zwischen Nagel und Fleisch schob. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wann sie sich dieser Technik zum ersten Mal bedient hatte, oder wie sie sie ersonnen hatte. Aber die erinnerten Bilder von ihren schwarzen Fingernägeln reichten weit in ihre Kindheit zurück. Ihre Mutter war früh verstorben. Selten hatte ihr Vater eine Gelegenheit ausgelassen, ihr den Tod ihrer Mutter vorzuwerfen. Nicht selten war ihm dabei die Hand ausgerutscht. Und manchmal die Faust. Und irgendwann hatte eine Dame vom Jugendamt sie ihrem Vater weggenommen. Sabrina war dann mit vielen anderen Kindern zusammen aufgewachsen. Eine unbeschwerte Zeit. Aber ihre Marotte mit den Nadelspitzen hatte man ihr dort nicht austreiben können. Man hatte nur erreicht, dass sie unauffälliger damit fortfuhr. Nagellack war ihre Antwort auf verräterische Spuren. Auch jetzt, während sie ihren Gedanken nachhing, steckte eine Nadelspitze in ihrem Fleisch, ein Automatismus, den sie nicht mehr zu kontrollieren vermochte. Das schmerzverzerrte Gesicht, das sie zog, war so sehr Ausdruck ihrer selbst geworden, dass sich feine Linien, wie eine Maske, in ihren Zügen festgesetzt hatten. Sie zog die Nadel vorsichtig heraus. Das tat fast so weh, wie sie hinein zu schieben. Dunkelrotes Blut tropfte auf den Boden. Arved hieß der Mann, den sie liebte. Geschlagene eineinhalb Jahre hatte sie um seine Liebe gebuhlt. Versucht, seine Gedanken zu lesen, ihm Wünsche zu erfüllen, an die er selbst noch nicht einmal gedacht hatte. Amüsant, schön und geistreich – das hatte sie versucht für ihn zu sein. Und pflegeleicht. Was hatte er versucht, für sie zu sein? Egal, sie hatte immer gewusst: eines Tages würde er sie so lieben wie sie ihn. Ihre Beziehung zu Arved, war nie „offiziell“ geworden. Nie hatten sie mit gemeinsamen Freunden ihre Abende verbracht. Lediglich ins Kino waren sie öfter gegangen. In der dunklen Intimität der Lichtspieltheater hatte er manchmal seinen Arm um sie gelegt. Dann dachte sie schon, sie hätte ihn gewonnen. Doch sobald das Licht wieder anging, war der Zauber dahin. Heute war Arved ganz anders. Heute gehörte er vollständig ihr. Aber es war ein schmerzhafter Weg gewesen bis diese glücklichen Zeiten hatten anbrechen können. Auch für ihn. Heute waren sie auf eine leise Art eins. Der Auftakt zu dieser Entwicklung war wie ein Paukenschlag über sie gekommen. Ihr war klar geworden, dass Arved Gefangener seiner emotionalen Unzulänglichkeit war. Und dass nur sie ihn befreien konnte. Mit der Zeit begann sie es als ihre Pflicht anzusehen, zu tun, was das Beste für ihn war. An jenem Abend waren sie beide dem Rotwein sehr zugetan gewesen. Der Wein half ihr, die Dinge klarer zu sehen: Während sie zu Beginn des Abends noch unsicher gewesen war, ob sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen sollte, erkannte sie mit fortschreitender Stunde immer deutlicher die Unausweichlichkeit. Schließlich tat sie es doch für ihn! Ein Nudelholz hatte sie Arved wuchtig über den Schädel gezogen. Als sie seine Knochen krachen hörte, wusste sie, dass es kein Zurück gab. „Eine Frau muss tun, was eine Frau tun muss“, hatte sie geflüstert und begonnen, seinen Leichnam mit einem Messerset zu zertrennen. Ganz konzentriert war sie vorgegangen und immer, wenn ihre Nerven durchzudrehen drohten, schob sie sich eine Nadelspitze unter einen Fingernagel. In derselben Nacht war sie mit dem Auto an entlegene Stellen gefahren – einen Wald, eine Müllhalde, einige seiner Körperteile hatte sie in den Fluss geworfen. Nur einen einzigen Teil hatte sie aufbewahrt: seinen Kopf. Nur einen einzigen Teil: seinen Kopf. Sie hatte dann ein besonders scharfes Messer mit glatter Klinge benutzt, um die Haut inklusive der Haare von Arveds Kopf abzuziehen. Sein Haar, verklebt von Blut und Partikeln seines Gehirns, hatte sie mit seinem Lieblingsshampoo gewaschen, damit es wieder so weich und duftig wurde, wie sie es kannte. Das Abziehen der Haut war mühevoll. Nach einigen Fehlversuchen hatte sie seine Lippen zusammen genäht, um zu verhindern, dass die Haut einriss. Die labbrige Hülle, die sie mit viel Geduld und Fingerspitzengefühl von den Knochen abgetrennt hatte, legte sie in kochendes Wasser. Mit fast wissenschaftlichem Interesse hatte sie verfolgt, wie der Lappen, der einmal Arveds Gesicht gewesen war, immer kleiner wurde und – wie zum Ausgleich dafür – dick und ledrig. Dann hatte sie kleine, erhitzte Steine in den Hohlraum gefüllt. Das hatte den Kopf – sofern man ihn noch so bezeichnen konnte – nochmals Schrumpfen lassen. Genau wie es in den Büchern beschrieben wurde. Danach kam er in den Räucherofen. Acht Stunden später hatte sie das dunkle, schrumpelige Ergebnis herausgeholt. Bei näherer Betrachtung fand sie, dass seine Züge zu wenig Ähnlichkeit mit denen aufwiesen, die sie an Arved so geliebt hatte. Also hatte sie ein wenig nachmodelliert. Schließlich hatte sie gewusst, dass sie noch oft in dieses Antlitz blicken würde. Seitdem war die Schatulle im Bettkasten sein Zuhause. Jeden Abend holte sie Arved heraus. Er wartete immer ungeduldig auf sie. Zärtlich küsste und herzte sie dann den faustgroßen Schrumpfkopf, versicherte ihm, dass sie ihn liebte. Und er antwortete ihr, dass er sie ebenfalls liebte. Ja, sie führten innige Gespräche. Jeden Abend. Er war ihr dankbar für das, was sie für ihn getan hatte. Er war jetzt glücklich. Und sie waren ganz eins. Manchmal bedauerte sie, dass sie nur seinen Kopf aufbewahrt hatte. Zu gern hätte sie gelegentlich seine starken Arme um sich gespürt. Manchmal spielte sie mit dem Gedanken, einen anderen Körper zu konservieren, um sich der Illusion hingeben zu können, es seien Arveds Arme. Aber den Gedanken verwarf sie jedes Mal wieder. Den Gedanken verwarf sie jedes Mal wieder. Das wäre einfach nicht dasselbe gewesen
7.
Ruhe. Endlich Ruhe, Geliebter. Vielleicht wirst du mir jetzt endlich glauben, dass es für mich keinen anderen gibt. Dass mein Herz nur dir allein gehört. So wie das deine mir. Nie habe ich andere Männer angesehen, seit wir uns kennen. Nie habe ich andere begehrt. Und die, die vor dir da waren, sind vergessen. Wie nie gewesen. Warum? Warum wolltest du nicht an meine Liebe glauben? Warum hast du gezetert, mich gequält mit deinem Misstrauen, mir nachspioniert? Mich gequält. Dich gequält. Warum konntest du nicht nachgeben, als ich dich darum bat? Warum musstest du verletzen, mit Worten, mit Taten? Warum hast du mich gequält? Dich gequält. Ruhe. Endlich! Ich spüre deine Wärme. Deine Herzenswärme. Ich spüre den schwachen, noch immer pulsenden Rhythmus deines Herzens. Wie die schwindenden Klänge deines Liedes. Dein Auge blickt starr. Deine Hände sind kalt. Aber noch spüre ich dein mich wärmendes Herz. Und betrachte müde wie all das Blut, das aus deiner Brust sickert, gerinnt. Noch spüre ich die Wärme, die zu dir gehörte. Und halte dein Herz fest in meinen Händen, Geliebter. Kühl und rein, so soll deine Schlafstatt sein. Kühl und rein, so soll deine Schlafstatt sein. Weiß wie Schnee, sanft wie Blut. Tot wie du. Weiß wie Schnee, sanft wie Blut. Tot wie du. -------- REFRAIN --------- Kühl und rein soll deine Schlafstatt sein. Weiß wie Schnee, sanft wie Blut. Tot wie du.
8.
Schweigen 04:42
Am Anfang war das Wort. Und das Wort haben Schwätzer vereinnahmt. Leute, die Sachverstand nur vorgeben. Die nur belanglos plappern. Sich über Nichtigkeiten austauschen. Leute, die sich in hohler Selbstdarstellung erschöpfen. -------- REFRAIN --------- Wen belügen wir eigentlich? Vermag Sprache, die Menschen einander näher zu bringen? -------- REFRAIN --------- Wen belügen wir eigentlich? ‘Wir können doch über alles reden’, pflegt sie in Konfliktgesprächen die zerstrittenen Parteien zur Räson zu rufen. Laien komplexe Sachverhalte in einfachen Worten vermitteln. Und Experten mit geschickter Rhetorik verwirren. Und jetzt fragt sie sich, ob Worte wirklich Macht haben. Können Worte Verständnis bewirken? Können Worte die Einsamkeit überbrücken? -------- REFRAIN --------- Wen belügen wir eigentlich? Wenn sie mit Freunden zusammen ist, ertappt sie sich manchmal selbst dabei, dass sie ihnen gar nicht zuhört; dass sie nur auf ihre Lippen starrt, sich fragend, was sie voneinander entfernt hat. Sind sie von einer Art Zentrifugalkraft auseinander gedriftet worden, einer Zentrifugalkraft, die sich einstellt, wenn sich Menschen zu stark um sich selbst drehen? -------- REFRAIN --------- Wen belügen wir eigentlich? Haben sie alle den unerschütterlichen Glauben an sich selbst verloren, den Glauben daran, dass die Welt sie mit offenen Armen empfangen würde? Sie haben festgestellt, dass die Welt ihnen höchstens einen kleinen Finger reicht. Und weil es zum Glücklichsein nie reicht, spielen sie Glücklichsein. Und tauschen nichts als Flachheiten aus. Um sich selbst nicht zu verletzen? -------- REFRAIN --------- Wen belügen wir eigentlich? Wen belügen wir eigentlich? Manchmal schmerzt ihr Gesicht von dem angestrengten Lächeln, das sie auf ihre Züge zwingt, höfliches Interesse am Gespräch vortäuschend. Manchmal trock-net ihr Mund dabei so aus, dass ihre Oberlippe an den Schneidezähnen kleben bleibt. Immer auf Sendung sein. Immer freundliches Interesse zeigen, eine zugewandte Körperhaltung einnehmen, bestärkendes Kopfnicken, teilnehmende Kommentare liefern – wen belügen wir eigentlich? -------- REFRAIN --------- Wen belügen wir eigentlich? Sie hat einmal geglaubt, dass Kommunikation Menschen einander näher bringt. Sie hat wirklich einmal geglaubt, dass man über alles reden kann – und das auch dringend tun sollte. Mehr und mehr wird ihr bewusst, dass sie keine Lust mehr hat zu reden. Ist nicht längst alles gesagt? Ist nicht alles nur Wiederholung? Gerede um nichts. Worte haben keine Macht. Niemand ist offen. Alle benutzen sich nur gegenseitig. Ist nicht längst alles gesagt? Ist nicht alles nur Wiederholung? -------- REFRAIN --------- Ein Zitat von Einstein geht ihr im Kopf herum: „Wenn die Menschen nur über das sprächen, wovon sie etwas verstehen, wäre es sehr still auf der Welt.“ Sie fasst einen Entschluss: Sie wird nicht mehr sprechen. Am Ende ist nur Schweigen.
9.
Buffet 02:41
Noch ein Häppchen, noch ein Schnäpschen, noch ein Schlückchen, noch ein Stückchen, noch ein Schnittchen, noch ein Bierchen, noch ein Bisschen, noch ein Blickchen, noch ein Gläschen, noch ein Grübchen, noch ein Bäckchen, noch ein Küsschen, noch ein Kläpschen, noch ein Schätzchen, noch ein Sektchen, noch ein Stößchen? Es ist angerichtet – die Köstlichkeiten winden sich auf der Tanzfläche, greif zu: sie warten nur darauf, in deinen Mund zu springen. Sie nur, da ist dieses rosige Bürschchen mit den Grübchen, sein Haar fällt weich auf seine Schultern... aber vielleicht als Aperitif etwas Herbes, so herb wie dieser Hengst da drüben, mit dem feurigen Blick, nein, eben habe ich seine Zähne gesehen. Lieber der dahinter, mit dem strahlenden Lächeln, wart’s nur ab, mein Schöner... -------- REFRAIN --------- Die Vorspeise steht da drüben vor der Tanzfläche, der, der so niedlich seinen Hintern schwenkt... als Hauptgericht sollte es etwas Üppiges sein... und dann noch was Süßes zum Dessert? ....Und dann noch ein Digestif? .... -------- REFRAIN ---------
10.
Narkotisiert 07:27
Sie lag da mit offenen Augen und fragte sich, ob sie überhaupt noch existierte. Sie fühlte nichts. Das Bewusstsein ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit trug sie stumm. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis: Ihre Unzufriedenheit, die sie sich nicht erklären konnte. Was, wenn konfektionierte Wünsche, nicht mehr passen? Was, wenn marktwirtschaftlich verordnete Sehnsüchte sich als Fluch entpuppen? Eine bleierne Müdigkeit packte sie, die Trägheit, die zu ihrem Korsett geworden war, die sie stützte, geißelte, die sie aber dennoch nicht abwerfen wollte. Und darum blieb ihr Leben auch weiterhin, das was es bislang gewesen war: ein Traum in einem Traum in einem Traum. Ohne Erwachen. Sie sagen, dass du Plasma bist, gallertartig mit Zellmembrane, kognitiv-dissonanter Glibber, osmotischer Druck bis du platzt! Sie wissen, was du nicht wissen musst, denn du hast jetzt Amöbenstatus! Sei bereit, das zu akzeptieren, denn du bist hier am Umschlagplatz! -----------------REFRAIN----------------------------- Da ist etwas in deinem Kopf Sie filtern selektiv für dich! Kanäle kannst du frei wählen. Lass dir weiter dein Hirn absaugen, dich mit Zucker und Fett bespritzen. Dass du nicht hören kannst, das, was du nicht sehen sollst, das, was sie gern verschleiern wollen Da ist etwas in deinem Kopf Ich glaube du brauchst es, dass man dir sagt: "Tu dies, tu das!" Ich glaube du brauchst es, du fragst nie was das hier soll – bist du schon tot? ------------- REFRAIN -------------- Da ist etwas in deinem Kopf Sie wissen, wo dein Lenkrad sitzt, Vorwärtsgang, nicht zu schnell, anhalten! Schau jetzt bloß nicht zurück, los weiter! Tanke voll, tritt aufs Gas, fahr mit! Sie schicken dich aufs Laufband! Pawlowscher Hund an der Leine! Komm, lass es uns apportieren, was dein "Herrchen" befohlen hat... -------- REFRAIN --------------- Da ist etwas in deinem Kopf verloren, verloren narkotisiert Verloren, verloren entkernt, seziert Verloren, verloren narkotisiert verloren, verloren entkernt, seziert Da ist etwas in deinem Kopf :::::::::::: SILENT PART ::::::::::::: Reih dich ein in die graue Masse, denn du bist der Verfallsartikel, Sekunde im Scannerlaser für den heutigen Umsatztag! Zahl den Bon und geh schnell zum Ausgang, leicht beschwingt weil du selektiert bist, idyllisch verzückt, bei der Farbpracht, merkst du nicht, dass die Tür sich schließt? Wenn sie sagen: "Jetzt neu!" – Dann kaufst du es. Wenn sie sagen: "Drück ab!" – Dann machst du es. Wenn sie sagen: "Sei stumm!" – Dann bleibst du es. Wenn sie sagen: "Ins Grab!" – Dann tust du es. Du bist das Pantone Verpackungs-Schwein, das das Ergebnis seiner eigenen Verwurstung dampfend auf dem Teller präsentiert! Du bist die leibeigene Tetraeder Vierfarb-Kuh, die sich freut, ihrer eigenen Muttermilch beraubt zu werden! Ihr seid die versklavten HKS-Eierpappenhühner, die stolz ihren Nachwuchs als Nahrung verkaufen! -------- REFRAIN --------- Da ist etwas in deinem Kopf verloren, verloren narkotisiert Verloren, verloren entkernt, seziert Verloren, verloren narkotisiert verloren, verloren entkernt, seziert Jede Gesellschaft bringt die Charaktere hervor, die sie für ihren Fortbestand benötigt.

about

Tiefschwarz, schnell, rhythmisch: Eine energiegeladene Fusion aus Jungle und NuFunk mit deutschen, gesprochenen Storys. Die rasanten Soundcollagen und vertrackten Beats lenken durch dunkel-morbide Welten - Splatter? Nein, nur das, was täglich in den Zeitungen steht - die ganz normale Realität zwischen Alltagswahnsinn und Neurose.

Ihre expressive Sprachperformance öffnet Freiraum für die Musik, die sich irgendwo zwischen Electro, Drum´n´Bass mit Triphop-Elementen und Industrial- und Darkwavemotiven bewegt.

credits

released November 14, 2007

Bettina Bormann (Lyrics, Vocals), Michael Krüger (Composing, Bass, Drums, add. Vocals), Guests: Canticum Potentem, Guitar: Tom Wendt
Mix und Master: Tom Wendt, Skating Dog, Hamburg, 2007

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about

OBERER TOTPUNKT Hamburg, Germany

::OT:: OBERER TOTPUNKT („TDC”, „Top dead center“) is the music project of Hamburg-based Singer-/Songwriter Bettina Bormann and Drummer/Composer Michael Krüger. ::OT:: performs live with Guitar, Theremin, Drums and Percussions as Duo or with live musicians. They made numerious remixes of Bands and are reguarly on tour throughout Germany and beyond. ... more

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